Autorin: Katharina Moser
Dieser Artikel ist in der Allgemeinen Zeitung ersterschienen:
https://www.az.com.na/nachrichten/gewalt-gegen-frauen-auf-dem-vormarsch2021-04-30/
Immer wieder werden in Namibia Vergewaltigungen gemeldet und die Fälle von geschlechtsspezifischer Gewalt häufen sich. Wie Experten und Aktivisten meinen, liegt das auch am gesellschaftlichen Umgang mit dem Thema Sexualität, und an der Werteerziehung in jungen Jahren.
„Ich habe Dinge im Umgang mit Frauen gesehen, die die Betroffenen traumatisiert zurücklassen“, so die bekannte Medienfigur Pombili Shilongo. Sie ist für ihre Recherchen zum Thema Frauenrechte durch das ganze Land gefahren, und hat die Situation von Frauen in Namibia mit eigenen Augen erfahren. „ Ich habe im Norden Kinder gesehen, die als zweijährige Babies bereits mit ihrem vierzig Jahre alten Onkel verheiratet waren. Diese Mädchen haben überhaupt keine Wahl.“ Shilongo war jahrelang als MC und TV Host für NBC tätig, und arbeitet nun an einem Projekt gegen geschlechtsspezifische Gewalt (GBV). GBV ist immer wieder Teil der politischen Debatte in Namibia, und vor einer Woche kam es im Parlament zu einer erhitzten Debatte über ihre Ursachen. Minister Calle Schlettwein argumentierte, körperliche Züchtigung, die noch immer Teil der Kindererziehung sei, bringe den Heranwachsenden von Grund auf bei, dass Gewalt als Reaktion akzeptabel sei. Dieser Überzeugung ist auch die Expertin Dianne Hubbard vom namibischen Legal Assistance Center (LAC). „Wir müssen mit unseren Kindern anfangen, die wir von Beginn an Gewaltlosigkeit, Gleichheit und Respekt lehren müssen. Die Tatsache, dass es in unseren Schulen immer noch die Prügelstrafe gibt, obwohl sie verboten ist, sendet eine geteilte Botschaft an die Kinder und suggeriert, dass Gewalt eine anerkannte Methode der Konfliktlösung ist.“
Auch die Zahl der Vergewaltigungen ist unverändert hoch. Allein zwischen Januar 2019 und Juni 2020 wurden in den offiziellen Statistiken 1600 Vergewaltigungen registriert, dabei liegt die Dunkelziffer deutlich höher. Oftmals sind es nicht Fremde, sondern die eigenen Familienmitglieder, die sich an den häufig noch minderjährigen Mädchen sexuell vergehen. Rund zwei hundert Mal im Monat nahm die namibische Polizei Fälle von sexuellem Missbrauch auf. Gewalt gegen Frauen betrifft vornehmlich die unteren gesellschaftlichen Schichten und hat oftmals gefährliche illegale Abtreibungen zur Folge. In Namibia besteht noch immer der südafrikanische „Abortion and Sterilization Act 2“ von 1975, der Abtreibungen nur in seltenen Fällen erlaubt, die wiederum von zwei Ärzten und einem Oberarzt bestätigt werden müssen. Sechs Prozent der Frauen in Namibia erleben laut dem United Nations Population Fund (UNFPA) physische Gewalt während der Schwangerschaft, genauso viele haben keinen Zugang zu gesundheitlicher Versorgung, weil es ihnen verboten wird. Etwa 15 Prozent derer, die sexuelle Gewalt überleben, bringen dies nie zur Anzeige. Und durchschnittlich werden jedes Jahr 1000 Menschen in Namibia vergewaltigt, 90 Prozent davon Frauen.
Laut Paskaline Nguhaie von der Frauenrechtsorganisation Her Liberty Namibia sind die zahlreichen Vergewaltigungsfälle die direkte Konsequenz komplexer gesellschaftlicher Muster. „Wir haben eine Gesellschaft, die mit tief verwurzelten patriarchalischem Verhalten und kulturell bedingter Machtverteilung zu kämpfen hat. Frauen und Kinder sind als Bürger dieses Landes nicht immer sicher.“ Trotz der zahlreichen Maßnahmen gegen gender-based violence, der medialen Aufmerksamkeit und dem wachsenden Bewusstsein stiegen die Zahlen immer weiter. „Wir haben mehr und mehr Vergewaltigungen, und Studien haben
gezeigt, dass oft gerade diejenigen die Täter sind, die die Frauen und Mädchen eigentlich beschützen sollen: Väter, Brüder, Onkel…“
Wie Risto Mushongo von der Condomize Campaign sagt, ist sexuelle Gewalt auch darauf zurückzuführen, dass Sexualität und Sex im Elternhaus immer noch ein Tabu sind. Den Mädchen und Frauen fehlt oft nicht nur der Zugang zu Verhütungsmitteln, sondern auch die nötige Aufklärung im sexuellen Umgang. Die Studentin und Botschafterin der Kampagne #BeFree, Bertha Tobias, berichtet, unter den jungen Lernenden an den namibischen Universitäten und ihren Dozenten kämen oft intergenerational Beziehungen vor. „Die Studentinnen haben Angst vor schlechten Noten, und beugen sich dem Einfluss ihrer Professoren“. Manche Studentinnen haben gar Sugar Daddies, um ihr Studium und die Lebenshaltungskosten in der Stadt finanzieren zu können. Laut Risto sind gerade die ländlichen Gegenden von diesem Aufklärungsmangel betroffen. „Wir sehen hier ein System der mangelnden Leitung und Orientierung.“ Es sei gerade die empfindliche Übergangsphase zwischen Schule und Universität, die selbst Mädchen aus akademischen Kreisen in schwierige sexuelle Dynamiken stürze, so Tobias. Dies sei ein Nährboden für sexuelle Gewalt.
Auch die First Lady of Namibia, Monica Geingos, setzt sich für Frauenrechte ein. Bei einer Veranstaltung für junge Erwachsene an der Universität von Namibia bezeichnete sie vor allem die Machtdynamik einer Beziehung als Schlüsselgröße. „Der Missbrauch fängt da an, wo es ein Machtgefälle gibt.“ Sie hat persönlich erfahren, wie junge, auch gebildete Frauen risikoreiches Verhalten an den Tag legen. Laut Geingos sei der erste Sex einer von drei Mädchen erzwungen, und Frauen hätten eine drei bis vier mal höhere Wahrscheinlichkeit, sich mit HIV zu infizieren. Die First Lady rief wiederholt die jungen Studenten auf, als Aktivistinnen und Aktivisten für Gleichheit und Frauenrechte einzutreten.
Junge Frauen berichten vielfach auch von emotionalen gesellschaftlichem Druck. „Junge Frauen in Namibia fühlen so oft Scham. Sie schämen sich, einfach so zu einem Automaten zu gehen und ein Kondom zu ziehen, oder Ältere nach Verhütungsmethoden zu fragen“, so die Studentensprecherin Tuilika Andreas.
Scham ist ein Schlüsselbegriff der feministischen Bewegung in Namibia. Das sogenannte Slut Shame Movement veranstaltete am 10. April den sogenannten Slut Shame Walk und protestiert gegen Slut-shaming, ein Begriff, der in den letzten Jahren geprägt wurde. Es bezeichnet die Praxis, bei der vor allem Frauen angegriffen und beleidigt werden, die dem von der Gesellschaft erwarteten Bild von Sexualität nicht entsprechen. Oft kommt dies zum Ausdruck, wenn Frauen als sexuell provokant empfundene Kleidung tragen. „Wir sollten anfangen, Frauen als die multidimensionalen Wesen anzusehen, die sie sind, und aufhören, sie in einfache Gesellschaftskategorien zu schieben. Eine Frau kann unter der Woche ein CEO sein und am Strand im Urlaub einen Bikini tragen“, so Nsozi Mwazi, die Gründerin und Leiterin der Bewegung. Sie sieht bei GBV das Problem auch in einem nicht ausreichenden gesetzlichen Rahmen. „Ein Null-Toleranz-Prinzip sollte aufgebaut werden, indem strengere Gesetze gegen diese Straftäter umgesetzt werden. Eine Strafe für sexuelle Belästigung, verbal genauso wie non-verbal, sollte eingeführt werden. Man sollte den Hintergrund von Polizeibeamten, Ärzten und Pflegern einführen, denn sie wissen nicht, wie man mit Opfern sexueller Gewalt umgehen sollte, und machen sie zu Schuldigen.“ Mwazi fordert außerdem die Einführung eines offiziellen Registers für sexuelle Straftäter, das der Öffentlichkeit zugänglich ist. So soll Gewalt gegen Frauen ins Bewusstsein der Gesellschaft gerückt werden – und eine Warnung an potenzielle Täter geschickt werden.
uch über Gewalt gegen Frauen hinaus hat das Thema der Situation der Frauen in Namibia große Sprengkraft. „Frauen haben so manche wichtige Schritte gemacht, um in politische Ämter und Führungspositionen zu gelangen, aber ich würde nicht sagen, dass wir Gleichberechtigung erreicht haben“, so Hubbard. Es habe Rechtsreformen im öffentlichen Raum gegeben, wie beispielsweise Affirmative Action für Frauen auf dem Arbeitsmarkt, Maßnahmen, um die Repräsentation von Frauen in lokalen Regierungen zu erhöhen und Gesetze, die GBV vermindern sollen. „Aber das Familiengesetz ist ein Gebiet, das man ignoriert hat. Hier gibt es kaum Bewegung in Fragen wie Ehebesitz, Scheidung und die das Ergreifen von Besitz nach dem Tod eines Familienmitglieds.“
Anders als Mwazi lobt Paskaline Ngunaihe zwar den umfassenden rechtlichen Rahmen zum Schutz von Frauen in Namibia. „Aber all diese Regeln und Gesetze scheitern an der Umsetzung, und daher protestieren die Frauen – sie wollen angesichts der großen Ungerechtigkeiten nicht länger ohne Stimme bleiben.“ Laut Paskaline spielen auch regionale Versorgungsdiskrepanzen im Land eine große Rolle. „Kavango, Oshikoto, Sambesi, Kunene und Ohangwena sind die ärmsten Regionen Namibias. Und wir konnten an unseren Projekten sehen, dass die Verteilung von Ressourcen und Perspektiven einen großen Anteil daran hat, wie Frauen und die Jugend gesellschaftliche Herausforderungen meistern. Durch einen Mangel an Bildung, finanziellen Mitteln, Arbeitsplätzen und Informationen fallen Frauen dort hinter den Menschen in besser gestellten Regionen zurück.“ Laut den Statistiken von UNFPA liegt die nationale Rate von Teenager-Schwangerschaften bei fast 20 Prozent, in der Kunene-Region bei fast 40 Prozent. Auch die Corona-Pandemie hat die Situation besonders verschärft und wirft ein Schlaglicht auf Systemschwächen. „Die Indikatoren der Weltbank sagen aus, dass der Anteil der von Frauen geführten Haushalte in Namibia bei 43,9 Prozent liegt. Das zeigt uns, dass eine große Verantwortung bei den Frauen liegt – sie sind diejenigen, die Gemeinden stärken und aufbauen. Sie sind die, die Kinder bekommen, ihre Familien versorgen und ernähren.“ Dieser Trend habe sich mit der Pandemie deutlich verstärkt: Frauen seien diejenigen, die durch den Virus bedrohte Existenzen aufrechterhalten müssen. Das habe zu Innovationen und Unternehmergeist geführt.
Sowohl die jungen Aktivistinnen an der Universität von Namibia als auch Her Liberty Namibia machen außerdem auf ein weiteres Problem aufmerksam, das viel zu oft missachtet werde: „Wir müssen anfangen, über die psychische Gesundheit der Frauen in Namibia zu sprechen. Viele Mädchen und Frauen verstecken ihre Traumata und grausamen Erfahrungen“, so Bertha Tobias. Nguhaie richtet eine klare Forderung an die Verantwortlichen in Regierungspositionen: „Junge Frauen leiden unter psychischen Problemen, die man als oberflächlicher Betrachter nie bemerken wird. Sie stammen aus täglichen Herausforderungen wie verfrühte Schwangerschaften, Arbeitslosigkeit und Armut. Die jüngste Gesetzgebung ist der South African Mental Health Act No. 18 von 1973. Das zeigt uns nur allzu deutlich, dass psychische Gesundheit in Namibia viel mehr untersucht und geschützt werden muss.“
Während die Situation für viele Frauen weiterhin nicht tragbar ist, und Vergewaltigungen und sexuelle Gewalt nicht abnehmen, formiert sich in Namibia langsam eine starke Bewegung von Frauen – und Männern – jeden Alters, die sich für Gleichheit und Respekt einsetzen. First Lady Monica Geingos sprach vor jungen Aktivistinnen und Aktivisten: „Vergewaltigung ist nicht Sex. Und es geht auch nicht um Sex. Bei Vergewaltigung geht es nur um Macht.“ Und sie gab den Studenten auf den Weg: „Zieht los, und bewegt Großes!“ Diese Woche haben Jugendliche von Dienstag bis Freitag den Nationalen Jugendrat zum Thema GBV veranstaltet – es bewegt sich etwas in der Gesellschaft.